Entscheidungen zum Thema Impfen – Mai/Juni 2017

Bundesgerichtshof (BGH): Beschluss vom 3. Mai 2017 AZ- XII ZB 157/16

Die Schutzimpfung eines Kindes ist auch dann eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung für das Kind, wenn es sich um eine sogenannte Standard- oder Routineimpfung handelt.
Bei Uneinigkeit der Eltern über die Durchführung einer solchen Impfung kann die Entscheidungsbefugnis dem Elternteil, der die Impfung des Kindes entsprechend den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut befürwortet, jedenfalls dann übertragen werden, wenn bei dem Kind keine besonderen Impfrisiken vorliegen.

Sachverhalt: getrennte Eltern streiten darüber, ob ihr Kind geimpft werden soll oder nicht.

Im vorliegenden Fall lebte das Kind bei der Mutter, die Angst vor Impfschäden hat und den Ärzten und der Pharmaindustrie misstraut. Sie fürchtete Impfschäden und wollte die Impfungen nur durchführen lassen, wenn negative Folgen ärztlicherseits mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnten. Der Vater will, dass das Kind alle offiziell empfohlenen Impfungen bekommt. Konkret ging es um den Schutz gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Pneumokokken, Rotaviren, Meningokokken, Masern, Mumps und Röteln.

Nach einem Beschluss des BGH kann der Familienrichter dem Impf-Befürworter zur Durchsetzung verhelfen. Die Entscheidung über den Impfschutz habe für das Kind erhebliche Bedeutung. Sowohl das durch eine Impfung vermeidbare Infektionsrisiko als auch das Risiko einer Impfschädigung belegten die erhebliche Bedeutung, führten die Karlsruher Richter aus. Daher gehört diese Entscheidung nicht zu alltäglichen Angelegenheiten, über die ein Elternteil alleine entscheiden kann. Können sich die Eltern nicht einigen, muss das Gericht bestimmen, wer entscheiden darf. Hier wurde dem Vater Recht gegeben. Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) seien vom BGH als medizinischer Standard anerkannt. Der Skepsis der Mutter gegenüber Pharmaindustrie und Ärzteschaft maßen die Richter dagegen kein Gewicht bei. Jedenfalls gäbe sie keinen Anlass für die Einholung eines gesonderten Sachverständigengutachtens über allgemeine Impfrisiken. Der Vater sei daher besser geeignet, in diesem Fall zu entscheiden. Neben dieser Indizwirkung sah man auch keine Einzelfallumstände gegeben, welche bei dem Kind besondere Impfrisiken begründen würden.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) (Urt. v. 21.06.2017, Az. C-621/15)

Nationale Gesetze dürfen Patienten die Beweisführung gegen Pharmakonzerne erleichtern. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Produkthaftungsprozess entschieden. Ein Bündel von Indizien könne ausreichen, um die Haftung von Arzneimittelherstellern zu begründen. Ein auf der wissenschaftlichen Forschung beruhender sicherer Nachweis sei nicht erforderlich, urteilten die Richter (Urt. v. 21.06.2017, Az. C-621/15).

Die Frage, wann ein Bündel von Indizien genügt, müsse im Einzelfall jeweils von den mitgliedstaatlichen Gerichten entschieden werden.

Der Entscheidung des EuGH lag ein französischer Ausgangsfall zugrunde: Der im Jahr 2006 verstorbene Geschädigte und seine Familie hatten gegen den Pharmakonzern Sanofi geklagt, weil der Geschädigte kurze Zeit nach einer Impfung gegen Hepatitis B mit dem von Sanofi hergestellten Impfstoff an Multipler Sklerose erkrankte. Den wissenschaftlichen Nachweis, dass der Impfstoff zum Ausbruch Multipler Sklerose und letztlich auch zum Tod des Patienten führte, konnte der Geschädigte jedoch nicht führen.

Stattdessen konnten lediglich verschiedene Indizien wie der ausgezeichnete frühere Gesundheitszustand, fehlende Vorerkrankungen in der Familie sowie der zeitliche Zusammenhang vorgebracht werden, die für einen solchen Kausalzusammenhang sprechen.

In mehreren Instanzen hatten die Parteien über die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Nachweises gestritten. Gemäß der Produkthaftungsrichtlinie (ProdHaftRL) muss der Anspruchsteller Fehler eines Produktes, den Schadenseintritt und die Kausalität zwischen den beiden Kriterien nachzuweisen. Zur Art und zum Umfang des Beweises schweigt Art. 4 der ProdHaftRL jedoch.
Ganz grundsätzlich gilt: Ein Gericht ist frei in der Würdigung der vorgelegten Beweise. Dem Richter steht es prinzipiell frei, bestimmte vorgebrachte Tatsachen und Indizien derart zu würdigen, dass er den vorgetragenen Sachverhalt als erwiesen ansieht. Unter Berücksichtigung von Art. 4 der ProdHaftRL ging der mit der Rechtssache befasste Cour d’appel de Paris, das Berufungsgericht Paris, jedoch davon aus, dass ein wissenschaftlicher Nachweis der Kausalität zwischen der Impfung und dem Ausbruch der Multiplen Sklerose geführt werden muss. Da dieser nicht geführt werden konnte, wies er die Klage ab.

Der anschließend mit einer Kassationsbeschwerde gegen das Urteil befasste französische Kassationsgerichtshof wollte vom EuGH wissen, ob sich der Kläger auf klare und übereinstimmende Indizien stützen kann, um den erforderlichen Kausalitätsnachweis zu führen.
Der EuGH hält den wissenschaftlichen Kausalitätsnachweis zwischen Fehler und Schaden für nicht erforderlich, solange das Gericht die Kausalität auf Grundlage ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien als erwiesen ansieht. Es müsse zumindest ein Indizienbündel vorliegen, das mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrscheinlichkeit den Schluss zulasse, dass der Kausalzusammenhang der Realität entspricht.
Weiterhin führe eine Beschränkung auf den wissenschaftlichen Nachweis unter Ausschluss aller anderen Arten der Beweisführung zu immensen Schwierigkeiten bei den Geschädigten. Die Chance, überhaupt jemals eine Entschädigung erlangen zu können, werde gerade im medizinischen Bereich minimiert.
Denn die Forderung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen erschwere die Beweispflicht des Anspruchstellers über alle Maßen. Es sei zu befürchten, dass aufgrund des Standes der medizinischen Forschung ein ursächlicher Zusammenhang regelmäßig weder bewiesen noch widerlegt werden könne.

In Deutschland reicht Geeignetheit der Schadensverursachung.

Auf die deutsche Arzneimittelhaftung hat das Urteil zunächst keine Auswirkungen. Die Haftung für Arzneimittel setzt in Deutschland gerade nicht – wie in anderen EU-Staaten – die ProdHaftRL um. Es gelten die rein nationalen Haftungsvoraussetzungen nach §§ 84 ff. Arzneimittelgesetz (AMG). Anders als Art. 4 der ProdHaftRL definiert § 84 Abs. 2 AMG eine im Jahre 2002 eingeführte, gesetzliche Kausalitätsvermutung: das angewendete Arzneimittel muss nach den Gegebenheiten des Einzelfalls – konkret-generell – geeignet gewesen sein, den Schaden zu verursachen. Ob diese Vermutung angestellt wird, richtet sich nach Indizien, die in § 84 Abs. 2 Satz 2 AMG beispielhaft aufgeführt werden. Diese Vermutung kann der Beklagte versuchen, zu erschüttern.
Doch auch für Fälle nach deutschem Recht muss nach der EuGH-Entscheidung ein Indizienbeweis auf einem hinreichenden Bündel konkreter und ihrerseits bewiesener Umstände beruhen. Ein allzu lockerer Schluss auf die Kausalität zwischen Produktfehler und Schaden verbietet sich nach wie vor. Die nationalen Gerichte müssen dafür Sorge tragen, dass die Indizien eine Qualität aufweisen, die den Schluss auf die Kausalität zulassen.

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